15 Jahre Junges Theater – ein Rück- und Ausblick: Ich kenne eine Theatermacherin, die immer dann den Blick – begleitet von einem tiefen Seufzer – in die Ferne schweifen lässt, wenn sie davon erzählt, wie sie unmittelbar im Anschluss an den Mauerfall nach Berlin gekommen sei: Es habe so viele Freiräume und unbesetzte Orte gegeben, berichtet sie dann, in denen man Ausstellungen, Performances oder Happenings veranstalten konnte. Ob das legal war oder nicht, spielte kaum eine Rolle. Brandschutz? Zweitrangig. Die Hauptsache war: Einfach machen!
Wenn ich heute an meine ersten Jahre am Theater Freiburg zurückdenke, ist dieses Motto wahrscheinlich das, welches mir in den Sinn kommt. Einfach machen! Trial and error. Es gab viel Energie unsererseits, aber keinen Masterplan – und zunächst auch gar nicht die Absicht, diese Aktivitäten in die Gründung einer Sparte münden zu lassen. Zu Beginn waren da nur meine Praktikantin Miriam und ich. Und die Idee, das Theater Freiburg zu einem Ort zu machen, den Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene als den ihren wahrnehmen. Wir hatten uns für die erste Saison viel zu viele Stücke, Aktionen und Projekte für ein junges Publikum vorgenommen, was sich elektrisierend angefühlt hat – jedoch auch der absolute Wahnsinn war.
2006 gab es an unserem Haus wie im Berlin der frühen 1990er-Jahre freie Räume: Der hinter dem Theatercafé gelegene Werkraum hatte die Spielzeiten davor brach gelegen und wurde nur noch gelegentlich als Probebühne genutzt. Wir wollten ihn wieder in Betrieb nehmen und zum Dreh- und Angelpunkt unserer Arbeit für ein junges Publikum machen. Dazu luden wir zunächst ein Künstler-Duo dazu ein, die Bühne mit einer raumfüllenden Installation wiederzueröffnen. Die Jungs von Höfner & Sachs schnappten sich den Theater-LKW, fuhren damit in unser Außenlager Mundenhof, füllten das Fahrzeug mit sperrigen, abgespielten Kulissenteilen und schleppten diese, nachdem sie dessen Türen ausgebaut hatten, in den Werkraum, der kurze Zeit später prall mit Kram und Plunder aus längst vergangenen Bühnenjahren gefüllt war. Entstanden war eine Art theatralischer Abenteuerspielplatz für Jung und Alt – u. a. mit einer Volksküche, einem rustikalen Jägerstüble, einem Kino, einer Miniatur-Disco (für genau eine Person) und einer ausladenden, aus allen möglichen Versatzstücken zusammengelöteten Rutschbahn. Als die Technische Leitung die Bühne zur Abnahme betrat, sah sie dieses windschiefe Konstrukt, wurde ganz blass und meinte nur: „Die muss raus.“
Die Risikorutsche wurde also wieder ausgebaut, der Werkraum kurze Zeit später ohne Sicherheitsbedenken feierlich eröffnet – und wir starteten in eine abenteuerliche Spielzeit mit gefühlt eintausend Vorhaben, in der u. a. Gary Joplin und Emma-Louise Jordan ihre erste Produktion mit Jugendlichen realisierten. Ihr folgten viele weitere, und wir etablierten mit den beiden die Tradition, alle zwei Jahre ein Musical mit jungen, nicht-professionellen Darstellenden im Kleinen Haus auf die Bühne zu bringen. Sie verfolgen wir bis heute: Im November 2024 hat das Musical GRIMM! (10+), die wirklich wahre Geschichte von Rotkäppchen und ihrem Wolf, ebendort Premiere.
Wir expandierten, produzierten mehr und mehr (und sogar noch mehr), richteten eine Abteilung für Musikvermittlung ein und gründeten 2009 schließlich die Sparte „Junges Theater“ unter dem Motto „Du musst dein Ändern leben“. Dieses Jahr ist für mich jedoch nicht nur deshalb besonders, sondern auch, weil zu dieser Zeit ein gewisser Benedikt Grubel sein Freiwilliges Soziales Jahr im Bereich Kultur in meiner Abteilung absolvierte. Benedikt sollte zu einem meiner wichtigsten Verbündeten werden, nachdem er sein FSJ und das anschließende Studium beendet hatte. Gemeinsam trieben wir das Motto „Einfach machen!“ auf die Spitze, indem wir immer wieder neue, abwegige und aufregende Versuchsanordnungen für unser Theater ausheckten: Von 2014 bis 2016 luden wir einmal im Jahr 20 junge Erwachsene, die sich allesamt nicht kannten, dazu ein, 24 Stunden mit uns in der INTENSIVSTATION im Werkraum abzutauchen und, nach einer Nacht ohne Schlaf und dafür mit extra viel Koffein, ein komplettes Theaterstück auf die Beine zu stellen. Oder: Für das Spoken-Word-Event RAUSCH + RUMMEL (2014) bauten wir während der Sanierung des Großen Hauses mit Sophie Passmann und Tobias Gralke spontan einen Rummelplatz in unsere Ausweichspielstätte auf dem Ganter-Areal, erschufen unsere Alter Egos – die Schaustellerbrüder Ralf und Rudolf Blume – und lernten, wie man ein echtes Jahrmarkts-Karussell bedient.
Oder: Im Forschungstheater SPUKVERSICHERUNG (2015) begaben wir uns mit der Theatermacherin Eva Plischke auf Geistersuche in Grundschulen. Die Geister wurden in Toiletten, Turnhallen und an Tafeln (die drei großen T’s der Schulspuksuche) eingefangen und im Werkraum mit den Mitteln des Theaters untersucht: Welcher böse Geist sorgt aus welchem Grund an bestimmten Orten für miese Stimmung, welcher muss ausziehen und welcher sollte vielleicht besser bleiben? Oder: In der Produktion DAS LEBEN DES ANDEREN (2018) beschäftigten wir uns intensiv mit dem Themenfeld „Leben, Lernen und Arbeiten“. Hierzu tauschte ich selbst mit einem Lehrer für Deutsch und Englisch in einem Experiment auf Zeit den Job. Unser umfängliches Scheitern wurde mit der Unterstützung von fünf Jugendlichen und einem Zufallsgenerator namens „Robert“ im Werkraum erzählt. Der Zufall war echt – und kein Abend war wie der andere. Oder: Zuletzt hatten wir die waghalsige Idee, ein Stück auf zwei Bühnen – im Werkraum und in der Kammerbühne – gleichzeitig mit nur vier Darstellenden im fliegenden Wechsel zwischen den Räumen für Kinder und Erwachsene zu erzählen. Entstanden ist unsere Produktion OZ (10+) nach dem Roman DER ZAUBERER VON OZ, die ab Februar 2025 wieder im Spielplan zu finden ist, im März mit einer speziellen Latenight-Show zur vorangeschrittenen Stunde.
Übrigens: Benedikt Grubel wird 2024 erstmals die Regie für das Kinderstück zur Weihnachtszeit im Großen Haus übernehmen. Gemeinsam erarbeiten wir eine eigene Fassung von Carlo Collodis PINOCCHIO (6+), in der wir den kleinen und großen philosophischen Fragen nachspüren, die dem wackeren Holzkerl auf seinem Weg zum „echten Menschen“ begegnen.
Ein weiteres wichtiges Jahr für das Junge Theater war 2012. Drei Jahre nach der Spartengründung übernahm Thalia Kellmeyer den Bereich Junge Oper und Konzert, Graham Smith gründete den Jungen Tanz und Ro Kuijpers das transnationale HEIM UND FLUCHT ORCHESTER (HFO).
Thalia war dem Freiburger Publikum bestens bekannt als Regisseurin von DIE KLEINE HEXE, dem Kinderstück zur Weihnachtszeit, das wir mit Abstand am häufigsten gespielt haben: Zwischen 2009 und 2017 legte die Nachwuchs-Magierin exakt einhundertneunzehn Mal die Zauberprüfung ab – einmal sogar in einer Freiburger Straßenbahn.
Graham ist bis heute am Jungen Theater tätig und stellt mit den Mitgliedern der Mehrgenerationen-Ensembles seiner SCHOOL OF LIFE AND DANCE (SOLD) Produktionen auf die Beine, die sich mit Themen von gesellschaftlicher Relevanz im Kontext von Körper, Bewegung und Gemeinschaft auseinandersetzen. Vielen im Gedächtnis dürfte noch die bildstarke Großproduktion DER TOD UND DAS MÄDCHEN von 2022 und das klimaneutrale Festspielhaus der Zukunft (2023) auf dem Theatervorplatz sein. Im Jahr 2025 beschäftigen sich die Mitglieder von SOLD im Tanzstück PASSION mit Leid, Leidenschaft und der Suche nach Veränderung. Und im Stadtraum-Projekt EIN KÖRPER, TAUSEND STIMMEN erforschen sie das Massenphänomen „Menschenmassen“.
Das HFO ist ebenfalls noch immer umtriebig und am Haus gibt es noch immer eine musikalische Sektion für ein junges Publikum: Seit einigen Jahren ist für sie Annika Kirschke gemeinsam mit Orchestermaskottchen Rudi Ratte verantwortlich. Ich könnte hier noch ewig weiterschreiben: In all den Jahren ist viel – sehr viel – passiert. Unzählige tolle Produktionen haben wir beispielsweise mit Margarethe Mehring-Fuchs und ihrem Team von Element 3 realisiert. Alleine über die Erfahrungen aus unserem dokumentarisch-biografischen Theaterabend KENNWORT: HOFFNUNG (2008), in dem es um die Diagnose Krebs bei Kindern und Jugendlichen ging, könnte ich stundenlang erzählen.
Ebenso wie über den Entstehungsprozess der Produktion SILENT SERVICE (2018), in der Sascha Flocken Regie führte und uns Pflege-Azubis mit in ihren irren Berufsalltag genommen haben. Und natürlich über die Visionen, die das Ensemble der Produktion THE 3RD BOX (2022) gemeinsam mit Monica Gillette und Gary Joplin zu den Themen Geschlechtsidentität und Queerness entwickelt hat und wie dieses Projekt uns als Sparte beeinflusst hat. Wahrscheinlich würde ich außerdem davon berichten wollen, wir sehr ich die Zusammenarbeit mit unserem Haus- und Hoffotografen Oliver Rath vermisse, der 2016 viel zu früh verstorben ist.
Meine Zeichen für diesen Beitrag jedoch sind aufgebraucht. Wie es mit der jungen Sparte weitergeht, werden Sie sich nun vielleicht fragen. Nun, mein Team und ich forschen natürlich weiterhin dazu, wie wir dieses Theater zu einem Ort machen, den möglichst viele Menschen als den ihren wahrnehmen. Und dabei vergessen wir natürlich nie unser Motto der Gründungsjahre. Sie wissen schon – „Du musst dein Ändern leben“ …