WECKWORTE: POETRY VS. VERGESSEN

von | 23.05.2012

Lars Ruppel (Foto: A. Wunderle)

Vor rund einem Monat fanden im Theater Freiburg die Landesmeisterschaften im Poetry Slam statt, morgen Abend gibt es wieder »Poetry – Dead or Alive«. Jenseits der großen Bühne trifft sich derweil der hauseigene Slamklub, um gemeinsam Texte zu schreiben, das gesprochene Wort zu erforschen und zu erkunden, wie man Slam und Theater fusionieren kann. In diesem Jahr hat der Klub gemeinsam mit Slammer Lars Ruppel Seniorinnen, die an Alzheimer erkrankt sind, im Marienhaus besucht. Ein Bericht von Klub-Mitglied Victoria Kempter:

»Ich bin scheisse, ich bin ein Pinguin, ich kann gar nichts.«

So lauten Motivation, Lebensmotto und Schlachtruf von Lars Ruppel, Slam Poet. Zu zehnt stehen wir in einem kleinen Zimmer des Freiburger Theaters. Er alleine unter neun jungen Frauen. »Und wenn euer Lehrer euch fragt, warum ihrs nicht drauf habt, was sagt ihr da?« ruft er in die Runde. »Ich bin scheisse, ich bin ein Pinguin, ich kann gar nichts«, antworten wir im Chor. Mit strahlenden Augen und breitem Grinsen im Gesicht setzen wir uns, und Lars fängt an zu erzählen. Er erzählt von den Demenz- und Alzheimerkranken Seniorinnen, die wir besuchen werden. Wie sie immer mehr vergessen, erst Tage, dann Wochen, Monate und Jahre, bis es Jahrzehnte werden und nur noch die Kindheit in Erinnerung bleibt.
»Was könnt ihr denn für Gedichte auswendig?« fragt er anschließend. Der Reihe nach zählen wir die klassischen Werke wie den »Erlkönig« oder den »Zauberlehrling« auf. Bei jedem neuen Gedicht fangen Lars Augen an zu glänzen und er sagt verträumt eine oder zwei Zeilen auf.
Während wir sammeln, teilt Lars stapelweise Gedichte aus. Von diesen sucht sich nun jeder eines aus, das er vortragen will. Nacheinander stellen wir uns in die Mitte des Stuhlkreises und tragen diese in verschieden Techniken vor. Eines der Mädchen, Jule, rezitiert »Mutters Hände« von Kurt Tuchlovsky. Während sie spricht, läuft sie im Kreis herum und nimmt nacheinander von jedem Anwesenden die Hände. Ich trage die »Mondnacht« von Joseph von Eichendorff vor. Eine Zeile nach der anderen. Nach jeder Zeile mache ich eine Pause, damit die anderen sie wiederholen können.

​Wir sind im Marienhaus, dem Altersheim, angelangt. Es ist sonnendurchflutet und erinnert an eine Mischung aus Krankenhaus und Jugendherberge. Wir müssen sehr leise sein, weil im Empfangssaal ein Konzert ist. Die Betreuerin, die uns zu den Damen führt, mit denen wir den Nachmittag verbringen werden, ist sehr glücklich und aufgeregt über unser Kommen. Lars bittet uns zu warten, bis er uns reinruft.

Und die Show geht los. Beschwingt betritt er den kleinen Raum und begrüßt die neun alten Damen und die zwei Betreuerinnen, die gespannt im Stuhlkreis sitzen. Er redet, und ich komme mir vor, als sei ich in einem Film. Ich bin so nervös, dass ich nicht höre, was er erzählt, bis wir eintreten. Die Damen schauen uns gespannt an. Wir gehen im Kreis rum, geben jeder der Frauen die Hand und stellen uns vor. Es ist seltsam, da man nicht weiß, wie lange sie sich an einen erinnern werden. Fast alle sprechen uns auf unsere kalten Hände an. Sie gehen selten raus. Jetzt im Winter fast nie.

Sobald wir alle sitzen, legt Lars erst richtig los. Alles was er tut, ist spontan, klingt aber, als sei es nach Drehbuch. Sein erstes Gedicht ist »Die Glocke« von Schiller. Eine der Damen horcht auf. Sie fängt an mitzusprechen. Lars wird still und lässt der Dame den Vortritt. Sobald sie anfängt zu stocken, springt Lars ein und unterstützt sie. Er hat sich inzwischen vor sie gekniet und schaut ihr in die Augen. Wir alle sind erstarrt, ergriffen von diesem magischen Moment. Als das Gedicht vorbei ist, klatschen alle. Die Frau strahlt, sichtlich stolz. Danach leitet Lars nacheinander die einzelnen Gedichte und Mädchen ein. Wir schaffen Atmosphäre, bringen die Damen zum Lachen. Wir wecken Erinnerungen und reizen ihre Sinne.

Jeder Dame überreichen wir zum Abschied eine Blume und sie reagieren überraschend. Eine lehnt sie ab, da sie bei ihr sowieso verdorren würde. Eine andere schenkt sie mir nach ein paar Minuten, weil sie sich offensichtlich nicht daran erinnern kann, wo die Blume plötzlich herkam. Es ist erschreckend und auch traurig zu wissen, dass sie uns nicht erkennen werden, wenn wir sie das nächste Mal besuchen.

​Lars tourt seit 2009 mit »Weckworte« (oder »Alzpoetry«) durch ganz Deutschland. Seinen Ursprung hat das Projekt in den USA, wo es von Schriftsteller Gary Glazner im Jahr 2004 ins Leben gerufen hat.
»Es geht nicht darum, dass sie sich an heute erinnern, das können sie gar nicht. Es geht darum, dass ihr ihnen schöne Momente bereitet«, bleute Lars uns kurz vor der einstündigen Session ein und jetzt weiß ich, was er damit meinte.