WART IHR BRAV, GARY UND EMMA?

von | 01.03.2019

Das STRUWWELPETER-Ensemble in Kostüm und Maske am 27.02.2019 im Kleinen Haus

Die letzte Probe für SHOCKHEADED PETER – STRUWWELPETER vor Weihnachten, 19. Dezember 2019. Vor deren Beginn treffe ich, Regiehospitantin der Produktion, Gary Joplin (Regie, Konzept, Choreographie) und Emma-Louise Jordan (Konzept, Choreographie), zu einem Gespräch in Anlehnung an die Interview-Reihe, die ich zuvor mit den Jugendlichen geführt habe.

Wart ihr brave Kinder?

Emma-Louise: Zuhause, ja. Aber in der Schule – ich war sehr jung bereits im Internat – war ich dafür bekannt, dass ich frech war.
Gary: Du hast viel Ärger bekommen, oder?
Emma-Louise: Ja (lacht). Wenn Leute nicht hingesehen haben. So eine war ich.
Gary: Zum Beispiel?
Emma-Louise: Ich habe ständig irgendwelchen Mist gemacht. Zur Strafe musste ich die Schuhe der gesamten Schule polieren. Das ganze Wochenende hat das gedauert! What did I do for that one?

Mit dieser an sich selbst gerichteten Frage, lädt uns Emma-Louise ein, einen Abstecher in ihre Erinnerungen zu nehmen: Viel Schabernack und Streiche scheinen dort zu warten, wir hören ihr zu und lachen viel. Emma-Louise erzählt, vom Heuhaufen, den sie mit den anderen Mädchen vom Feld ins Internat gebracht haben – „überall hinter uns war Stroh verteilt“- von Streichen unter Freundinnen und:

Emma-Louise: Ich war dafür bekannt, die Stimme jedes Dozenten gut nachmachen zu können. An Geburtstagen mussten wir immer aufstehen, da einem gesungen wurde. An meinem Geburtstag habe ich dann, ich habe lange dafür geübt, alle Dozenten nachgeahmt, die auch alle am Tisch saßen. Ich war natürlich sehr beliebt. Das alles habe ich gemacht, um geliebt zu werden. Jetzt bist du dran, Gary.

Gary Joplin und Emma-Louise Jordan während der Proben

Gary: Ich war extrem brav. Ich kenne viele Leute, für die es zuhause grandios, aber dafür schwierig in der Schule war. Bei mir war es anders. Zuhause musste ich braver sein, als ich wirklich bin, und in der Schule konnte ich genauso schnell sein, wie ich mochte. Ich konnte laut sein, habe viele Fragen gestellt. Frech war ich nicht, das ist nicht das richtige Wort, ich war sehr vorlaut. Ich wollte immer alles wissen. War einer der (Gary streckt übereifrig die Hand in die Luft und ruft mit hoher Stimme): „Ich weiß es, ich weiß es!“

Und Emma-Louise kann sich eine liebevolle Bemerkung unter Kollegen nicht verkneifen: „Oh mein Gott, so ein kleines Arsch eigentlich, so ein Streberarsch warst du.“

Gary erzählt unbeirrt weiter, von der strengen Zurechtweisung einer Musiklehrerin, die ihm den Mut genommen hat, sich weiter zu melden. Außerdem von regelmäßigen Besuchen in der Kirche. Emma verrät, mit sarkastischem Unterton, zu allem Überfluss, sei er auch noch Schulsprecher gewesen.

Mich interessieren, ob und welche Strafen sie fürchten mussten.

Gary: Meine Eltern meinten, Gott sieht alles, was ich tue.Wenn ich irgendetwas Falsches mache, gehe ich schlichtweg in die Hölle. Es war eine ständige Mahnung: „Auch, wenn wir es nicht sehen, Gott sieht es und du wirst bestraft.“
Ich erinnere mich, in der zweiten Klasse hatten wir Stifte, mit denen man Tinte radieren konnte. Da mein Radiergummi weg war, habe ich den vom Pult der Lehrerin genommen, vergessen, ihn zurückzulegen und mit nach Hause gebracht. Ich hatte in der Bibel gelesen, dass man, wenn man stiehlt, in die Hölle kommt. Ich habe die ganze Nacht durchgeweint, ich war untröstlich.

(Mit Gottesglauben oder der Furcht vor seinen Strafen aufzuwachsen, ist für mein 23-jähriges Ich kaum nachvollziehbar, von strafenden Schlägen des Holzlöffels ganz zu schweigen. Trotzdem frage ich mich, inwiefern diese Erfahrungen meiner Eltern, meiner Großeltern weiterhin wirken, sei es bewusst oder unbewusst auf sie selbst, ihre Kinder und Kindeskinder.)

Bühnenprobe am 27.02.2019 im Kleinen Haus

Wir kommen zu meiner Lieblingsfrage aus den vergangenen Wochen. Die Frage nach dem Lieblingsort in der Kindheit. Bei allen, denen ich diese Frage gestellt habe, ging, wenn auch nicht immer sofort, eine kleine, gut geschützte Tür in den Augen auf, mit viel Licht dahinter.

Emma-Louise: Für mich war es dieses Internat. Das war wie Hogwarts. Es gab so viele Zimmer. Wir konnten frei herumlaufen und ich war überzeugt davon, dass es Geheimfächer und Geheimpassagen gab. Wir haben überall geklopft und gesucht, mit einer Reihe von Mädchen, dann haben wir uns sicherer gefühlt.

Gary: Als Kleinkind … Wir hatten einen riesigen Eichbaum hinter dem Haus. Da bin ich immer wieder hinaufgeklettert, da war ich alleine. Das war für mich immer total angenehm: Weg von Leuten, nur in der Natur.

Wir machen einen Sprung zurück ins Erwachsenenalter. Wir sprechen über Emma-Louises und Garys Arbeit, insbesondere mit Jugendlichen, die weniger die Last einer streng autoritären Erziehung, mehr Qual vermeintlich unendlicher Freiheit tragen.

Gary: Wir sind interessiert am Kern der Menschen. Was können wir aus ihnen herausholen, was ist der nächste Schritt dorthin. Das ist die Herausforderung, der wir uns stellen. Manchmal ist der nächste Schritt auch, mit einem gewissen Muster umzugehen. Manche Leute wissen nicht, wie es ist, wenn jemand sie völlig wahrnimmt und ihnen den Raum lässt, in dem sie nicht tricksen müssen und einfach mal da sein können.

Emma-Louise: Mut zur Hässlichkeit, zum Beispiel. Das kann man natürlich nicht gleich brechen. Das sind Muster, die sind auch in mir drin. Wenn jemand viel Ballett gemacht hat, sind viele in ihrer Bewegung sehr strukturiert. Bei einer Improvisationsaufgabe merkt man schnell, dass sie darauf achten, hübsch auszusehen. Jemand, der dann von der Straße hier hereinkommt, vorher nichts mit Bewegung zu tun hatte, und dann total offen ist, ist dann für mich interessanter. Aber jeder bringt eben eine andere Erfahrung, eine anderes Mindset mit.

Gary: Es ist eine Frage von Sicherheit. Es ist uns wichtig, einen sicheren Raum zu schaffen, wo sich langsam alle entfalten, in alle Richtungen. Die, die zu viel Strenge in sich haben, entspannen können. Umgekehrt, die Leute, die gar keine Körperspannung haben, lernen: Oh, hier kann ich auch mal Spannung reinbringen, so dass mit der Zeit ein Gleichgewicht entsteht.

Abgehoben: der fliegende Robert beim ersten Durchlauf im Kleinen Haus

An der letzten Frage, knabbere ich seit Beginn meiner Hospitanz: Wie lässt sich der STRUWWELPETER in Bezug zur Gegenwart setzen?

Gary: Was ist anders? Was ist fremd? Das ist in jedem Zeitalter relevant. Da müssen wir einen Weg finden, dass es sich nicht nur auf den „Mohr“ in der „Geschichte von den schwarzen Buben“ bezieht, der dort als „das Andere“ gilt.

Ich glaube auch, dass nicht jede Familie auf solche bösen Aktionen verzichtet.
Macht wird subtiler ausgeübt beziehungsweise das psychologische Machtspiel raffinierter. Auch wenn es körperlich nicht verletzend ist, gibt es immer noch eine Ebene von Gewalt, die unausgesprochen bleibt.

Das Gespräch verläuft sich in weiteren Kindheitsanekdoten, da habe ich das Aufnahmegerät schon ausgeschaltet. Über bitteren Nagellack, die unerträgliche Vorfreude auf Weihnachten und verweigertes Essen, das über den Zaun zum Nachbarn gekippt wird. Der Eindruck, der bleibt: Ich habe es hier mit einem eingespielten Team zu tun, das mit Sicherheit auch so gut funktioniert, da ihre aufrichtige Herzlichkeit untereinander so ansteckend wirkt.

Probenfotos: Rainer Muranyi