Dass die Spielzeit 2020/2021 keine normale werden würde, war allen klar. Nach einem Sommer, in dem man bisweilen schon fast das Gefühl einer Pandemiepause entwickelt hatte, fing der Saisonauftakt für mein Team und mich im Jungen Theater tatsächlich zunächst vielversprechend an: Denn in unserer Kernspielstätte, dem Werkraum, ergaben Messungen, dass die Lüftung, die uns mit ihrem stetigen Luftstrom während der Proben so oft Probleme macht – ab Oktober proben wir in der Regel mit Schals –, so leistungsstark ist, dass wir fünfzig Zuschauer_innen, mit Abstand versteht sich, in den Saal lassen dürfen. Ich hatte zuvor befürchtet, dass es eher zwölf bis zwanzig sein würden.
Mit 2 GLORREICHE HALUNKEN hatten wir im Oktober eine Neu-Produktion angesetzt, die uns auf der Bühne Möglichkeiten einräumte, die unter Corona-Bedingungen sonst kaum herzustellen wären. Unsere „Halunken“ waren Vater und Sohn, lebten in einem Haushalt und reflektierten auf der Bühne – ohne Mindestabstands-Auflagen, weil ein Haushalt – dringliche Fragen der Gegenwart, die in ihrer gemeinsamen Quarantäne im Frühjahr aufgekommen waren und ihnen auf den Nägeln brannten.
Als ich vor der Premiere die Zuschauer_innen begrüßte und die obligatorische Covid-Ansage machte, war es das erste Mal, dass mir ein Publikum gegenübersaß, das auch während der Vorstellung Mund-Nasen-Schutz tragen musste. Diese Auflage war nämlich erst ein, zwei Tage zuvor beschlossen worden. Damals fühlte sich das noch sehr ungewohnt an – eher wie vor einer OP im Krankenhaus als vor einer Premiere in einem Theater.
Unmittelbar vor dem ersten Lockdown im März 2020 – damals gab es, das muss man sich heute noch einmal vor Augen führen, offiziell noch selten Mindestabstände, keine durchdachten Hygienekonzepte und keine Maskenpflicht – hatten Gesa Bering, Benedikt Grubel, Jan Paul Werge und ich mit unserer Produktion DRACULA Premiere im Werkraum. In diesem Stück begaben wir uns auf die Fährte von Bram Stokers legendärem Vampir. Nach der ersten Show fanden noch zwei Vorstellungen statt – dann war Schicht im Schacht.
Zu Halloween (!) 2020 wollten wir unseren scharlachroten Vampir-Abend im Herbst dann wieder in den Spielplan nehmen. Angesetzt war eine Probenwoche, um die Inszenierung im Hinblick auf die neuen Vorgaben umzusetzen. Also: 1,5 Meter Abstand auf der Bühne zu jeder Zeit (mindestens, bei Benedikt Grubels Trompetenspiel mehr), keine Lebensmittel, die konsumiert werden, kein Bühnennebel, Abstand zum Publikum sowieso usw. usf.
Auch wenn man sein halbes Leben Theater macht (so wie beispielsweise ich), wird einem erst richtig bewusst, wie bedingungslos körperlich das alles ist, was wir auf der Bühne gewöhnlich so treiben. Man kommt sich extrem nah, man berührt sich permanent, man geht über seine Grenzen, flüstert in die Ohren anderer, brüllt, singt, liegt neben- und aufeinander, manchmal küsst man sich, isst Kopf an Kopf gemeinsam Spaghetti alla napoletana aus einem Topf – und leckt auch mal Theaterblut vom Hals eines Mitspielers ab. Und jetzt? Also, heute – in unserer Pandemie-Gegenwart? Alles nicht mehr denkbar. Kein Küssen. Kein gemeinsames Pasta-Mahl. Und definitiv kein Theaterblut-Ablecken.
Es ist schon krass, so einen Theaterabend auf diese Dinge hin zu scannen und immer wieder vor Augen geführt zu bekommen, wie weit weg das ist, was noch im Februar 2020 Normalität für uns alle war. Sie kennen das sicher auch – dieses kurze innere Zucken, wenn man heute einen Film ansieht und sich die Menschen auf der Leinwand beispielsweise innig umarmen.
Das Gefühl von Verlust war auf unseren Proben daher allgegenwärtig, die Kraftanstrengung, alles sicher zu machen, nicht unerheblich. Aber ich will hier wirklich nicht jammern! Seltsam war das dann trotzdem, als wir am 31. Oktober 2020 um 19.00 Uhr unseren überarbeiteten DRACULA vor rund fünfzig Menschen mit Masken gezeigt haben: Ein ganz anderes Gefühl zum Publikum stellt sich da ein, denn man bekommt viel weniger direktes Feedback aus dem Zuschauerraum, als man gewohnt ist. Und man merkt sofort, wie awkward die Situation ist. Für alle – vor, auf und hinter der Bühne. Trotzdem: Es tat gut, wieder spielen zu können.
Einmal haben wir DRACULA, der also unterdessen als „Vampir mit Hygienekonzept“ auferstanden war, gezeigt, dann kam auch schon der zweite Lockdown. Die Produktion landete in unserer Lagerkiste, in der sich schon unser neues Kinderstück zur Weihnachtszeit PIPPI LANGSTRUMPF und zwei Stücke aus dem Frühjahr befanden.
Und dann? Anschließend galt es, sich erneut neue Szenarien zu überlegen. Darin sind wir alle ja mittlerweile erfahren – im Entwickeln von Alternativen sowie von Alternativen der Alternativen. Es gab für mich eine Spielplanvariante mit Aufnahme des Vorstellungsbetriebs im Dezember (glaubte aber eigentlich niemand dran), eine mit Wiedereröffnung im Januar (könnte schon sein, eventuell, mal sehen, wie die Zahlen nach Weihnachten und Silvester sich entwickeln) – oder doch erst im Februar (Plan C) oder März (D) oder April (E)? Und über Plan F möchte ich mich hier gar nicht erst äußern, denn ich hoffe wirklich sehr, dass er nicht zur Anwendung kommt.
Seit dem 11. Januar 2021 proben wir nun wieder im Werkraum. Es stand eine zweite Endprobenphase der Lecture Performance AUF KLINGEL an, in der es um das Themenfeld „Pflege“ geht und die wir nun im Rahmen einer sog. „Geisterpremiere“ mit Kameras für ein künftiges Streaming-Angebot festgehalten haben (Stichwort: Varianten D bis F). Parallel dazu arbeitet meine Kollegin Leonie Fritsch aus der Musikvermittlung an Digitalformaten mit dem Philharmonischen Orchester und mein Kollege Graham Smith mit den Mitgliedern seiner SCHOOL OF LIFE AND DANCE via Zoom und Co. an einem Videowalk, der den Titel HALTEN tragen wird. Im Werkraum hat unterdessen Probenblock No. 2 der Jugendproduktion WIE DER WAHNSINN MIR DIE WELT ERKLÄRTE nach dem Roman von Dita Zipfel begonnen.
Heute ist der 19. Januar, früher Nachmittag. Ich schreibe diesen Text in einer Probenpause zum WAHNSINN, den ich als Dramaturg begleite. Immer mal wieder aktualisiere ich tagesschau.de und schaue nach, ob es schon neue Mutmaßungen aus Berlin gibt. Denn es stehen neue Beratungen zwischen Bund und Ländern an, und wir erwarten neue Maßnahmen und eine Verlängerung des Lockdowns.
Die Premiere vom WAHNSINN ist für den 28.02.2021 programmiert. Von diesem Premierendatum gehen wir angesichts der Entwicklungen schon länger nicht mehr aus. Wir hoffen jedoch, dass diese Produktion nicht auch noch in der Lagerkiste mit PIPPI und DRACULA eingemottet werden muss.
Wann sie zu sehen sein wird? Nun, wir werden es sehen. Ich für meinen Teil hoffe auf Plan D oder E. So eine schicke Frühlings-Premiere rund um Ostern – ohne Mutanten, mit niedrigem R-Wert und mit vielleicht fünfzig MiM (Menschen im Mundschutz) im Werkraum – wäre echt eine feine Sache. Und, ich betone es noch einmal, von Variante F soll an dieser Stelle definitiv nicht die Rede sein!
Update 21.01.2021: Unterdessen wissen wir, dass das Theater Freiburg für den Publikumsverkehr bis zum 31. März geschlossen bleibt. Meine Prognose mit der frühlingshaften Premiere von WIE DER WAHNSINN MIR DIE WELT ERKLÄRTE kurz nach Ostern scheint also Wirklichkeit zu werden – wir planen sie nun für Fr, 09.04.2021 um 19.00 Uhr im Werkraum.
Text: Michael Kaiser, Künstlerischer Leiter Junges Theater
Fotos: Marc Doradzillo, Rainer Muranyi
Illustration: Michael Genter