Ein Gespräch mit zwei Mitgliedern unserer „Critical Friends“-Gruppe, die das Theater Freiburg im Hinblick auf Zugänglichkeit und Abbau von Barrieren durchleuchtet – aufgezeichnet von Michael Kaiser, Mitglied der Projektgruppe „Access All Areas“ und Künstlerischer Leiter des Jungen Theaters.
Vor Jahren habe ich an einer Studie mitgearbeitet, die untersucht hat, warum Menschen ins Theater gehen oder ihm fernbleiben. Wir haben viele Stunden lang in Fokusgruppen Gespräche mit Fans und Ablehnenden geführt. Ich habe damals begriffen, dass wir Theatermachenden uns nicht einmal im Ansatz ausmalen, wie viele explizite und implizite Barrieren Menschen fernhalten oder von ihnen befürchtet werden, wenn es um Theaterbesuche geht. Spätestens seit diesem Zeitpunkt ist es mir ein großes Anliegen, Barrieren auf allen Ebenen zu benennen und daran zu arbeiten, sie möglichst auch abzubauen.
2023 hat sich meine Kollegin Juliane Kiss aus der Tanzsparte mit mir zusammengetan, um beim Zentrum für Kulturelle Teilhabe Baden-Württemberg eine Förderung im Rahmen des Programms „Weiterkommen!“ zu beantragen. Die Idee war, unter dem Motto „Access All Areas“ einen Prozess zu starten, in dessen Verlauf Zugänge zu unserem Theater von einer inklusiven Gruppe „Critical Friends“ überprüft und Handlungsempfehlungen zum Abbau von Barrieren erarbeitet werden. Wunderbarerweise erhielten wir die Förderung und seit Januar 2024 treffen wir uns mindestens einmal im Monat mit unseren zwanzig Gruppenmitgliedern, den externen Prozessbegleiterinnen Judith Blumberg und Valerie Gebhard sowie Balthazar Bender und Isabella Kammerer aus dem Team des Jungen Theaters. Wir hören uns gegenseitig zu, arbeiten in Kleingruppen, besuchen gemeinsam Aufführungen, schauen uns hinter den Kulissen um – und vor allen Dingen lernen wir unheimlich viel über multiperspektivische Sichtweisen auf das Theater Freiburg. Die Gruppe erhält von uns eine Aufwandsentschädigung, wir engagieren bei Bedarf Assistenzen und stellen Freikarten zur Verfügung.
Ein halbes Jahr nach Projektstart treffe ich mich mit den „Critical Friends“ Vanessa Urban (25) und Jens Gebel (54) zum Gespräch. Vanessa kommt ursprünglich aus Konstanz, hat an der Katholischen Hochschule Freiburg studiert und arbeitet bei der Lebenshilfe Breisgau. Seit ihrer Geburt leidet sie unter dem seltenen Ehlers-Danlos-Syndrom. Das ist, vereinfacht gesagt, ein Gendefekt, der das Bindegewebe in seiner Struktur verändert und damit schwächt. Vanessa beschreibt die Erkrankung selbst so, dass die Körper anderer Menschen von einer Art „Superkleber“ zusammengehalten würden, während bei ihr nur ein einfacher Klebestift diese Arbeit verrichte. Die Auswirkungen betreffen den gesamten Körper, was dazu führt, dass Vanessas Alltag stark beeinträchtigt und von starken chronischen Schmerzen begleitet wird. Insgesamt hat sie über 40 Diagnosen und bewegt sich mit einem Rollstuhl fort. Ihre Erkrankung hält sie in ihrer Freizeit jedoch nicht davon ab, in der Kletterhalle sehr steile Wände zu erklimmen. Jens kam in Schramberg im Schwarzwald auf die Welt und ist seit seiner Geburt blind. Das Abitur hat er an der Carl-Strehl-Schule in Marburg abgelegt, der einzigen Schule, auf der man das in den 1980er-Jahren als blinder Mensch machen konnte. Es folgte eine Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann, was zu dieser Zeit eine Seltenheit und auch ein Kampf mit den Behörden war, da ihn das Arbeitsamt auf anderen Bildungswegen – wie einer Ausbildung zum Telefonisten – sehen wollte. Mit 23 Jahren ging er nach Los Angeles, um dort Gitarre zu studieren. Anschließend zog er nach Freiburg, wo er 2006 gemeinsam mit seiner Partnerin Veronica Reiff das Citysound Studio eröffnete, eines der wenigen von einem Blinden geführten Tonstudios in Deutschland. Um selbst Barrieren abzubauen und die Teilhabe am öffentlichenLeben zu verbessern, bietet er Kurse für Menschen mit Sehbeeinträchtigung im Umgang mit iPhones und Computern an. Jens ist als Bühnen- und Studiomusiker, Komponist und Arrangeur tätig. Der Multiinstrumentalist veröffentlichte zuletzt mit dem Jens Gebel Quartett das Jazz-Album TUNESDAY.
Michael: Vanessa und Jens, wie ist es, sich mit einem Rollstuhl und chronischer Erkrankung bzw. als blinder Mensch durch Freiburgs Kulturszene zu bewegen?
Jens: Dass ein Blinder kulturelle Veranstaltungen alleine, ohne Assistenz, besuchen könnte, wird vielerorts nicht mitgedacht. Ich habe das Glück, dass mich meine Partnerin in der Regel begleitet. Aber auch da erleben wir immer wieder, dass Abläufe unnötig kompliziert gestaltet sind, zum Beispiel der Ticketkauf für Begleitpersonen. Es kommt häufig vor, dass wir die Karten nicht wie alle anderen daheim ausdrucken können, sondern sie vorab irgendwo persönlich abholen müssen. Es ist noch immer so, dass die Leute, die solche Veranstaltungen programmieren – in der Regel Menschen ohne Behinderungen –, diese Aspekte einfach nicht mitbedenken. Und dann ist es wahnsinnig schwer, sie im Nachhinein zu implementieren, weshalb man am besten von Anfang an Menschen mit Behinderungen in die Prozesse involvieren sollte. „Nothing about us without us“ ist der Satz, der in diesem Zusammenhang wichtig ist.
Vanessa: Auch für mich benötigt das viel Planung, wenn es überhaupt möglich ist. Ich habe eine relativ komplexe Behinderung und bei mir fängt das schon mit der einfachen Frage an, wie ich da überhaupt hinkomme: Fahren öffentliche Verkehrsmittel dorthin? Kann ich mir ein Taxi leisten? Kann ich mir eine Begleitperson organisieren? Sind da Stufen, gibt es einen Aufzug, sind die Türen breit genug? Ich sehe und ich höre schlecht, und eine fürmich wichtige Frage ist daher, ob ich mich vor Ort überhaupt orientieren kann. Gibt es eine gut aufgebaute Internetseite, die all meine Fragen beantwortet, oder eine Mail-Adresse oder eine Telefonnummer? Und selbst wenn es die geben sollte, schließt sich für mich immer die Frage an, ob die Person am anderen Ende das alles überhaupt weiß und ich die korrekten Infos bekomme. Nur weil irgendwo steht, dass ein Ort „barrierefrei“ sei, heißt das nicht, dass er für mich oder andere Personen wirklich zugänglich ist. „Barrierefrei“ bedeutet ja nicht nur, dass es keine Stufen gibt. Die Konzepte sind oft nicht weit genug gedacht – gut gemeint, aber noch zu wenig.

Jens Gebel in seinem Tonstudio in Freiburg-Vauban (Foto: B. Schilling)
Michael: Hast du Beispiele für Konzepte, die für deine Bedarfe* nicht weit genug gedacht wurden?
(*Ich habe festgestellt, dass im Sprechen über dieses Projekt der Begriff „Bedarfe“ immer wieder Irritationen auslöst. Tatsächlich verwende ich ihn in diesem Kontext sehr bewusst, da es einen semantischen Unterschied zwischen einem Wunsch und dem gibt, was benötigt wird.)
Vanessa: Für mich ist es immer wichtig, dass bei öffentlichen Veranstaltungen Rückzugsmöglichkeiten eingerichtet werden, was leider noch viel zu selten der Fall ist. Manchmal werde ich im Rollstuhl übersehen und andauernd angerempelt. Falls mir alles zu viel wird, muss ich wissen, dass es einen „Safe Space“ gibt. Wichtig ist auch, dass Assistenzen mitgedacht werden, was auch nicht selbstverständlich ist. Darf ich die Person überhaupt mitbringen, welche Mehrkosten entstehen dadurch und darf sie in der Veranstaltung neben mir sitzen?
Michael: Gibt es vielleicht auch Positivbeispiele – also Angebote, die für euch gut funktionieren?
Jens: Wenn ich mir Filme ansehe, ist die GRETA-App ein tolles Tool, um Audiodeskription in jedem beliebigen Kinosaal abzurufen. Du lädst dir die Anwendung einfach auf dein Smartphone, der Film beginnt, die App erkennt das, synchronisiert sich automatisch und über deine Kopfhörer wird beschrieben, was auf der Leinwand zu sehen ist. Ein anderes positives Beispiel ist das Humboldtforum in Berlin. Wir waren vor wenigen Wochen dort und haben an einer Führung für Blinde teilgenommen, die richtig gut gemacht war. An jeder Station gab es eine Fühlkarte des betreffenden Raums. Exponate, die hinter Glas ausgestellt wurden, waren in Miniaturform nachgebildet, sodass ich sie in die Hand nehmen und ertasten konnte. Außerdem gab es am Boden ein Leitsystem für Blinde, so wie man es beispielsweise vom Hauptbahnhof kennt.
Michael: Am Theater Freiburg bieten wir neben monatlichen „Relaxed Performances“, bei denen im Zuschauerraum alles etwas lockerer zugeht, ausgewählte Vorstellungen mit Gebärdensprachdolmetscher*innen und Vorstellungen mit „Audiodeskription“ (AD) an. Hast du, Jens, unser AD-Angebot schon wahrgenommen und funktioniert das für dich gut?
Jens: In den meisten Fällen erklärt meine Partnerin mir während der Vorstellung, was auf der Bühne passiert. Das ist dann quasi meine ganz persönliche Live-Audiodeskription, was für sie aber sehr anstrengend sein kann. Deshalb freuen wir uns, wenn ihr am Theater AD anbietet. Bei den Vorstellungen, die wir bisher besucht haben, war das auch immer gut gemacht. Es gab während der Tanzplattform 2024 eine Veranstaltung mit AD, die mich besonders beeindruckt hat – MATTERS OF RHYTHM mit der gehörlosen Tänzerin Rita Mazza, ganz ohne Sound und ohne Sprache. Ein Stück in absoluter Stille also – und es war so ein cooles Erlebnis! Da wären wir ohne den Tipp deiner Kollegin aus dem Tanz nie reingegangen. Vor der Vorstellung wurde eine Bühnenbegehung mit Rita und einer Gebärdensprachdolmetscherin angeboten. Dadurch bekamen wir einen ganz anderen Bezug zur Inszenierung, der den Besuch intensiviert hat.
Michael: Bühnenbegehungen, haptische Tastführungen und Pre Show-Access sind Konzepte, die wir auf jeden Fall vermehrt anbieten wollen. Für Menschen mit Behinderungen beginnen die Schwierigkeiten jedoch häufig schon vor dem Besuch des Veranstaltungsortes, oder?
Vanessa: Ganz genau. Mich kostet die Vorbereitung und die Prüfung der Infos oft so viel Kraft, dass ich gar keine Reserven mehr habe, um überhaupt teilzunehmen. Ich lebe seit 2019 in Freiburg und war die ersten vier Jahre nicht einmal im Theater.
Michael: Dass du jetzt regelmäßig zu unseren Aufführungen kommst, hat also etwas mit der Gruppe und diesem Projekt zu tun?
Vanessa: Es hat alles mit diesem Projekt zu tun! Alle meine Fragen zu Vorbereitung und Orientierung wurden beantwortet. Die Zweifel wurden minimiert, weil wir gemeinsam ins Theater gegangen sind und alles bestens organisiert war. Der Austausch mit anderen Menschen mit Behinderungen, die positive Erfahrungen gemacht haben, hat mir Mut gegeben und Kultur wieder zugänglich gemacht, was ich als riesen Geschenk empfinde. Als Mensch mit Behinderung stößt du im Alltag oft auf Diskriminierung, Ableismus und Barrieren. Man ist deshalb oft frustriert, wütend und traurig und weiß nicht, wohin damit.
Jens: Wenn ich an einem Veranstaltungsort auf Barrieren stoße, kann ich hinterher zur Vorverkaufsstelle gehen, meine Probleme vortragen und darum bitten, dass die Infos weitergeleitet werden. Meine Erfahrung ist aber, dass es an dieser Stelle auch meistens endet. Daher finde ich das „Critical Friends“-Projekt super, weil man direkte Ansprechmenschen hat, von denen man weiß, dass sie Kritik ernst nehmen und sie im Theater verbreiten.
Vanessa: Bei unseren Treffen gibt es einen Raum, diese Dinge konstruktiv anzusprechen, damit Gehör zu finden undzu sehen, dass es auch einen krassen Effekt hat. Da ist viel Wertschätzung, Bemühung, Offenheit und ganz viel Wollen. Das hat man von Anfang an gespürt und es hat super gut getan. Mir hat das den Mut zurückgegeben, auch in anderen Kontexten wieder auf Probleme aufmerksam zu machen.
Michael: Die Erkenntnisse unserer Gruppentreffen übergebt ihr der amtierenden und der kommenden Theaterleitung sowie der Beauftragten der Stadt für die Belange von Menschen mit Behinderungen, wovon wir uns einen Langzeiteffekt versprechen. Und dann gibt es bereits konkrete Vorhaben, die aus diesem Projekt heraus entstanden sind …

Vanessa in der Kletterhalle (Foto: B. Schilling)
Vanessa: Ich arbeite ja bei der Lebenshilfe Breisgau und hatte die Idee, gemeinsam mit euch einen inklusive Theaterklub aufzuziehen. Los geht es im Februar 2025, aber für den Klub vormerken lassen kann man sich jetzt schon. Weiterführende Infos dazu findet man in eurer Spielzeitbroschüre Junges Theater 2024/25, die auch an der Theaterkasse oder in den Foyers ausliegt, auf S. 25.
Michael: Angenommen, ich würde euch eine weiße Karte, die berühmte „Carte Blanche“, geben und ihr könntet uns eine Sache mit auf den Weg geben, die wir im Bereich Zugänglichkeit am Theater unbedingt umsetzen sollten – was wäre das? Die Kosten spielen jetzt mal keine Rolle …
Jens: Sämtliche Vorstellungen sollten mit AD angeboten und es sollte ein Indoor-Leitsystem für Blinde mit Beacons oder QR-Codes implementiert werden. Diese Codes in den Foyers und Zuschauerräumen würden von einer App auf meinem Smartphone gescannt werden, mir über Sprachausgabe Orientierung geben und mich so bis zu meinem Platz geleiten. Damit könnte ich auch alleine Theateraufführungen besuchen.
Vanessa: Ihr solltet eine Person engagieren, die für das Thema zuständig ist und zuständig bleibt. Eine Person, die Menschen mit Behinderungen bei Theaterbesuchen begleitet oder Begleitung organisiert, ein „Gate Keeper“ für das Thema Inklusion nach innen wie nach außen. Eine Person, die ich bei Fragen anrufen kann und von der ich alle Infos bekomme, die rund um einen Vorstellungsbesuch auftauchen – davor, währenddessen und danach.
Das Projekt „Access All Areas“ wurde ermöglicht durch die Förderung „Weiterkommen!“ des Zentrums für Kulturelle Teilhabe Baden-Württemberg.
Infos zur Zugänglichkeit am Theater Freiburg:
www.theater.freiburg.de/de_DE/zugaenglichkeitDas Zentrum für Kulturelle Teilhabe Baden-Württemberg:
www.kulturelle-teilhabe-bw.deAngebote der Lebenshilfe Breisgau:
www.lebenshilfe-breisgau.deInfos über Jens Gebel als Musiker, sein Tonstudio und die Kurse für Blinde und Sehbehinderte:
www.jensgebel.com
www.citysoundstudio.de
www.zumsprechendenapfel.de