ES WAR EINMAL EIN STÜCK HOLZ …

von | 09.11.2024

Regisseur Benedikt Grubel (links) und Dramaturg Michael Kaiser (Foto: Marc Doradzillo)

Kurz vor der Premiere des neuen Kinderstücks zur Weihnachtszeit traf Carolin Koch aus der Education-Abteilung Benedikt Grubel (Regie) und Michael Kaiser (Dramaturgie), die beiden Autoren der Freiburger Theaterfassung von PINOCCHIO (6+), zum Gespräch über Lieblingsfiguren, Erwartungen und wachsende Nasen. 

Fangen wir mit einer einfachen Frage an – welche Figur aus dem Stück ist eure Lieblingsfigur und warum?

Benedikt: Das ist eher eine ganz schwierige Frage! Ich glaube, so eine ganz klare Lieblingsfigur darf ich in meinem Amt quasi gar nicht haben. Aber ich muss sagen, dass mir schon auch die titelgebende Figur, Pinocchio, sehr ans Herz gewachsen ist. Weil Pinocchio einfach so eine Offenheit und Neuheit hat, der Welt zu begegnen und das finde ich total berührend. Man denkt vielleicht, dass Pinocchio ein freches Kerlchen ist, dass immerzu Streiche spielt, irgendwie Unsinn treibt und „das Bengele“ ist. Wenn man aber die Originalgeschichte von Carlo Collodi nimmt, ist das nicht unbedingt der Fall. Ich finde eher, dass Pinocchio im Kern gut ist und absolut keine Hinterlist hat. Aber es gibt auch so viele andere, tolle Figuren, da kann ich mich nicht festlegen.

Michael: Ich glaube wir haben uns, gerade weil wir eine eigene Fassung schreiben wollten, besonders intensiv mit der Figur Pinocchio auseinandergesetzt. Rein zeittechnisch haben wir uns um diese Figur am meisten Gedanken gemacht – wie erzählt man diese Geschichte heute? Auf welche Reise geht Pinocchio? Welche Figuren wollen wir ihm an welchen Orten begegnen lassen? Wir haben von Collodi einen Stapel von tausend Orten und tausend Figuren, konnten „cherry picking“ betreiben und unsere Lieblingsfiguren und -stationen raussuchen.

Was hat euch an dem Stoff um die wackere Holzpuppe so gereizt? Warum wurde ausgerechnet PINOCCHIO das diesjährige Kinderstück zur Weihnachtszeit?

Michael: Es fängt ja schon total großartig an! Bei Collodi heißt es: „Es war einmal … ein König!, werdet ihr Kinder jetzt rufen, aber nein! Es war einmal ein Stück Holz. Es war ein ganz gewöhnliches Stück Holz, kein edles, sondern ein einfaches Brennholz, wie man es in den Kamin werfen kann, um sich damit zu wärmen.“ Das ist so ein verblüffender Beginn für eine der weltweit sicherlich bekanntesten Kindergeschichten, für eine Geschichte von 1881. Was daraus auf einer Theaterbühne in dieser Fantasie entstehen kann, das hat uns sehr fasziniert. Da liegt erstmal ein Stück Holz, aus dem sich dann dieser Geschichtenkosmos entwickelt. Aus dieser kleinstmöglichen Einheit, eine leere Bühne mit einem Stück Holz darauf, wird dann so eine Welt wie später im Verlauf der Ort Paradeisien.

Benedikt: Pinocchio geht in dieser Geschichte nämlich nicht, wie Pinocchio eigentlich soll, in die Schule, sondern landet im Puppentheater, wird dort als Holzpuppe auch willkommen geheißen und gehört direkt dazu. Das fanden wir an dieser Stelle sehr schön: Denn die Kinder, die insbesondere zu unseren Schulvorstellungen am Vormittag kommen, gehen auch nicht in die Schule, sondern eben ins Theater. Wir folgen Pinocchio immer weiter ins Theater rein und legen immer weitere Ebenen und Szenen offen. Inhaltlich finde ich auch, dass Pinocchio sehr viele philosophische Fragen behandelt: Was ist Wahrheit, was ist Lüge? Welchen Raum haben die Fantasie und Vorstellungskraft? Da ist die Geschichte von Collodi auch recht nah dran – wie Kinder sich Geschichten erzählen und diese nachspielen. Auch die Gesellschaft, in der Pinocchio da lebt und hineinstrudelt, hat Realitätsbezug: Man sieht durchaus kapitalistische Mechanismen, Pinocchio wird immer wieder ausgenutzt, weil andere Personen eher auf sich selbst und den eigenen Geldbeutel schauen. Auch wenn es gar nicht so einfach ist diese Parallelen zu formulieren – da steckt einiges drin in dem Stoff.

Ihr habt schon erwähnt, dass es von Collodi zahlreiche kürzere Episoden zu Pinocchio gibt. Wie sah euer Arbeitsprozess aus, aus diesem Sammelsurium ein 75-minütiges Theaterstück für eine recht große Altersspanne zu kreieren?

Benedikt: An dem Prozess ist eigentlich ziemlich spannend, dass wir nicht eine feste Fassung geschrieben haben, die jetzt genauso umgesetzt wird. Eine der ersten Sachen, die feststanden, war das Bühnenbild von Mari-Liis Tigasson. So stand am Anfang der Konzeption zwar schon eine Verknüpfung an Episoden und Orten fest, es gab aber noch keinen Text dazu. Dazu hat sich Mari-Liis Bilder überlegt und davon aus- und weitergehend haben wir entschieden, welche Figuren in dieser Welt konkret auftreten sollen. Daraufhin hat Sarah Mittenbühler die Kostüme entworfen und erst im Schritt danach kam das Schreiben der Fassung. Das Besondere an unserer Fassung ist, glaube ich, dass sie sehr stark in die Realität des Theaters hereingeschrieben ist. Wir thematisieren das Theater selbst ganz stark. Das hat natürlich auch konzeptionelle Gründe, aber es hat auch damit zu tun, dass wir vom Theaterprozess ausgehen und im Schreiben der Fassung direkt Bühne und Kostüme mitdenken konnten. Auch die weiteren Fähigkeiten, die die Schauspieler*innen so mitbringen, hat den Text sehr beeinflusst, beispielsweise Puppenspiel und Instrument.

Michael: Diese Reihenfolge hat wirklich einen Unterschied gemacht: Wir wussten zum Zeitpunkt des Schreibens schon, wie wir die Frage der wachsenden Nase auf der Bühne lösen werden. Man kann eigentlich sagen, wir haben die Fassung wirklich diesem Theaterapparat und den Spielenden auf den Leib geschrieben. Normalerweise passt sich das Bühnenbild an den Text an, bei uns war es eben umgekehrt. In diesem Fall waren die szenische Idee und Umsetzung schon da, und man musste den Text dazu so schreiben, dass er zu dieser Idee passt. Das ist auch kein in Stein gemeißelter Text. Wir sind immer noch daran, den Text zu verändern, den Bühnenprozessen anzupassen und zu kürzen.

Wenn man so einen bekannten Titel zur Aufführung bringt, ist man auch konfrontiert mit den Erwartungen des Publikums über die Dinge, die sie von der Geschichte schon kennen. Wie geht ihr mit dieser Erwartung um? Beeinflusst diese Entscheidungen, die ihr in den Proben trefft?

Benedikt: Ich glaube, dass wir uns schon bewusst sind, dass wir gewisse Dinge erzählen müssen – natürlich wird auf unserer Bühne die Nase wachsen und auch ein Riesenhaifisch ist zu sehen … vielleicht wird sogar das ganze Theater zu einer Art Riesenhaifisch werden. Trotzdem bietet der Stoff auch unheimlich viele Freiheiten. Alle kennen unterschiedliche Adaptionen dieser Geschichte, je nachdem in welchem Medium und welcher Fassung man schon davon gehört hat.

Michael: Ich fühle mich dahingehend tatsächlich überhaupt nicht eingeschränkt. Es gibt nämlich nicht DIE eine Verfilmung von Pinocchio, von der alle klare Bilder im Kopf haben. Bei PINOCCHIO ist die Sachlage eine andere: Kaum jemand haben den Original-Roman von Collodi gelesen, die meisten Menschen kennen einzelne Episoden. Die Grundparameter sind also klar, aber mit allem weiteren können wir sehr frei umgehen. Auch unsere Kolleginnen Sarah Mittenbühler (Kostüme und Masken) und Mari-Liis Tigasson (Bühne) konnten mit dieser kreativen Freiheit an die Sache herangehen.
Eine weitere wichtige Rolle in unserer Inszenierung spielt die musikalische Ebene. Johannes Birlinger hat die Musik komponiert, und wir haben einen Live-Musiker, Ro Kujipers an den Percussions, mit dabei auf der Bühne. Außerdem ist das Ensemble musikalisch eingebunden. Das macht aus der Inszenierung eine atmosphärisch dichte, mitreißende Angelegenheit.

Apropos Erwartungen: In meiner Erinnerung geht es in Erzählungen von Pinocchio sehr viel um das Lügen und die wachsende Nase. Ihr aber habt einen anderen Fokus der Geschichte gewählt. Warum?

Benedikt: Die Erinnerung trügt manchmal! Das ist echt spannend, denn viele Menschen haben ganz starke Bilder dazu im Kopf, je nachdem welche Version der Erzählung man so kennt. Die gängigsten sind natürlich das mit der Lügennase, vielleicht noch der Riesenhaifisch und die Entstehung der Holzpuppe. Was darüber hinaus passiert und wie genau die Geschichte verläuft, wissen dann die wenigsten. Tatsächlich ist auch in den allermeisten filmischen Adaptionen die Lügennase nur eine der vielen Episoden. In unserer Inszenierung hat die Geschichte einen Platz, aber nimmt nicht zu viel Raum ein. Pinocchio ist nicht die Geschichte eines notorischen Hochstaplers, sondern die Geschichte einer Holzpuppe, die letztendlich ohne Kompass ist, die Welt nicht kennt, in dieses Abenteuer hineinstolpert und immer tiefer hineinstrudelt. Es ist eher eine Abenteuerreise als die Geschichte von jemandem, der permanent die Unwahrheit sagt. Pinocchio sollte einen aufrichtigen und tiefgründigen Grund zum Lügen haben. Viele Erzählungen machen aus Pinocchio eine Figur, die bestraft und gemaßregelt werden muss. Das haben wir bewusst ziemlich zurückgenommen. Es geht nicht darum, Pinocchio wegen irgendetwas zu richten und ihn, wie es im Original eigentlich steht, zu einem braven Jungen aus Fleisch und Blut zu sozialisieren. Wir legen dann doch eher den Fokus auf die umgekehrte Bewegung. Nämlich dass wir im Theater auch die Fantasie, den Unsinn und das Spiel feiern.

Michael: Pinocchio wird oft total übel mitgespielt. Letztlich war es eine Überlegung von uns, dass Pinocchio wie ein Kind ist, das gerade in die Schule kommt: Bisher durfte es den ganzen Tag spielen und der Fantasie freien Lauf lassen, plötzlich beginnt der sogenannte „Ernst des Lebens“ und es wird rangeklotzt. Das ist ein einschneidender Moment im Leben. Vielleicht läuft es dann in der Schule nicht gut und man macht irgendwelche Mobbing-Erfahrungen. Die Figuren im Stück könnten auch Figuren aus dem Alltag von Kindern sein, die sich durch die Schule bewegen. Die Grille könnte eine strenge Lehrperson sein, Fuchs und Kater die Schulhof-Bullys. Pinocchio ist eigentlich ein ganz unschuldiger Charakter, der dazwischensteht und nur das Beste will, aber manchmal nicht die richtigen Entscheidungen trifft. Es wäre total bitter, wenn er dafür noch eins auf den Deckel bekommen würde. Irgendwie ist es doch auch charmant, dass er sich die Freiheit nimmt, das Puppentheater zu besuchen und nicht in die Schule geht. Das wäre doch auch für manche Erwachsene etwas – mal nicht direkt ins Büro zu hetzen, sondern einen kleinen Umweg zu wählen und sich Kunst anzusehen. Pinocchios Lernprozess besteht darin, dass man falsche Entscheidungen treffen darf, daraus lernt und es beim nächsten Mal (vielleicht) besser macht.

Probenfotos: Britt Schilling