NEULICH IN ESSEN

von | 02.06.2014

400 Aquarien, 18 Theaterstücke und viel Stoff für gute Gespräche: Benedikt Grubel, Projektassistent und künstlerischer Mitarbeiter am Jungen Theater, war für eine Woche in Essen: Als Teilnehmer des »Next Generation«-Forums beim Kinder- und Jugendtheatertreffen Nordrhein-Westfalen (»Westwind«), hat er viel Theater gesehen und darüber geredet. Jetzt wird es höchste Zeit, ein wenig darüber zu berichten …

In Essen hat das digitale Zeitalter bereits begonnen (Foto: B. Grubel)

Neulich erst war ich im Ruhrgebiet. Ich habe unsere Bürotür im fünften Stock doppelt abgeschlossen, den Koffer gepackt, bin ICE gefahren und habe im kühl-geschäftlich wirkenden Essener »Motel One« eingecheckt. Im »Motel One« in Essen gibt es digitale Aquarien in allen Zimmern. Kaum hat man die Zimmertür hinter sich geschlossen, flackert auch schon automatisch der Flatscreen auf und plötzlich sind da Korallen, die im sanften Pazifikstrom umherwedeln, und farbenprächtige Fische schwimmen zu nervenaufreibend ruhiger Fahrstuhlmusik von rechts nach links und von links nach rechts.

Das Aquarien-Hotel ist vom Grillo-Theater aus nur einmal ums Eck. Und so können wir alle direkt aus dem Bett in die Vorstellungen oder Inszenierungsgespräche fallen und dabei sogar noch ein Croissant auf den Weg mitnehmen. Vor dem Grillo-Theater, der Hauptspielstätte des Schauspiel Essen: Ein Meer aus neonpinken, im Wind baumelnden »Westwind«-Fahnen. Dazwischen Theatermenschen mit ebenso neonpinken Jutebeuteln um die Schultern (man erkennt sich!) und die Fische aus dem Hotelzimmer sind für den Anfang nicht das allerschlechteste Smalltalk-Thema.

Es weht ein Westwind in Essen (Foto: B. Grubel)

»Westwind«, so nennt sich das Arbeitstreffen der Kinder- und Jugendtheater in Nordrhein Westfalen, das nun bereits zum 30. Mal stattgefunden hat. Und »Next Generation« nannte das Festival uns, die zehn jungen Theaterschaffenden, die im Rahmen eines Festivalstipendiums dazu eingeladen waren, jede Menge Theater zu schauen und über das Gesehene zu sprechen. Und das war überhaupt das Beste an dieser Woche in Essen: Die intensiven, stundenlangen Gespräche mit meinen neun jungen Kolleg_innen, von denen einige noch mitten im Studium stecken, und andere, so wie ich selbst, gerade erst beginnen, in der Theater-Arbeitswelt Fuß zu fassen – ob als Theaterpädagog_innen, Bühnenbildner_innen oder Regisseur_innen. Wie von selbst bahnten sich die Gespräche ihren Weg – drifteten von der ausführlichen Vorstellungsrunde direkt ab zu Fragen nach Theaterformen, aktuellen Ästhetiken und Produktionsweisen, bis hin zum Sinn und Unsinn verschiedenster Theaterausbildungen. Und sie setzten sich bis ins Unendliche fort, bis spät in die Nacht hinein, beim Frühstück, bei Eis, Bratwurst oder beim Bier (erstaunlicherweise Rothaus) in der unfassbar urigen Kantine des Schauspiel Essen mit ihrem unverwechselbaren Jugendherbergscharme.

»Robinson Crusoe«, Theaterkollektiv Subbotnik, Koproduktion: FFT Düsseldorf und Theater an der Ruhr

An sieben Festivaltagen sahen wir in Essen 18 Theaterproduktionen, darunter die von einer Auswahljury ausgesuchten neun »besten« Theaterproduktionen aus Nordrhein-Westfalen, die in den letzten zwei Jahren sowohl an freien als auch an städtischen Bühnen entstanden sind. In ganz besonderer Weise haben mich dabei die Produktionen »Robinson Crusoe« und »Papas Arme sind ein Boot« beeindruckt und berührt. Dem Theaterkollektiv »Subbotnik« aus Düsseldorf gelingt es mit wenigen Worten, atmosphärisch dichten Klangflächen und starken Bildern, das einsame Inselleben des gestrandeten Robinson Crusoe auf die Bühne zu spülen. Ihre, oftmals Live-Hörspiel-ähnliche, Adaption des Romanklassikers von Daniel Dafoe eröffnet in all ihrer poetischen Ruhe eigene Denkräume und schafft es dabei, ein gutes Theaterstück für wirklich alle zu sein – egal ob nun 8, 23 oder 65 Jahre alt. Auch Hannah Biedermanns Inszenierung lässt die Grenzziehung zwischen dem sogenannten »Kindertheater« und dem so genannten »Erwachsenentheater« verschwimmen. In »Papas Arme sind ein Boot« (ab 5 Jahren) sitzt das Publikum in einer kreisrunden, eigens gebauten Papier- und Holzbühne auf der Hinterbühne des Grillo-Theaters und kann sich gegenseitig beim Zuschauen beobachten. Das Stück ist mehr Situation als Handlung, gibt den Zuschauer_innen viel Raum zum spielerischen Selbsterkunden und -entdecken und verhandelt dabei schwer und leise, leicht und heiter zugleich Themen um Tod, Trauer, Einschlafen und Weitermachen.

Bereichert wurde das Westwind-Programm durch einige internationale Gastspiele aus der Türkei, Frankreich und den Niederlanden. So sahen wir unter anderem ein unfassbar zartes Pas-de-Deux zwischen Bagger und Mensch mit großartigen Pathos-Momenten oder lernten die anarchische, ziemlich hibbelige Handpuppe Polichinelle kennen, die sogar dem Tod ein Schnippchen schlägt.

Am vorletzten Abend des Festivals waren dann auch noch wir »Nexties« (die naheliegende Abkürzung für die »Next Generation«) am Zug: Wir bauten kleine Sitzgruppen auf, beamten unsere liebgewonnen »Motel One«-Fische an die Wand der »Heldenbar« im Foyer des Schauspiel Essen, stellten Nachttischlampen auf und Bier zur Verfügung und luden zu einem Feedbackgespräch. In meiner Gruppe ging es um die Rolle des Kinder- und Jugendtheaters im digitalen Zeitalter und das war kein leichtes, ziemlich uferloses Thema für die späte Uhrzeit.

Über Urkunden, Blumen, Blitzlicht und Geld durften sich am Ende das Theater »pulk fiktion« aus Köln mit »Papas Arme sind ein Boot« (diese Entscheidung überraschte eigentlich niemanden so wirklich) und das Theater Marabu aus Bonn mit ihrer besonderen Inszenierung der »Bremer Stadtmusikanten« freuen, die den Effektivitätszwang unserer heutigen Gesellschaft anhand des Grimm-Märchens über die vier outgesourcten, altersschwachen Tiere Esel, Hund, Katze und Hahn untersucht.

Die Preisträger: »pulk fiktion« aus Köln und »Die Bremer Stadtmusikanten« aus Bonn (Theater Marabu)

»Westwind« 2014. Das war ein durch und durch gelungener Arbeitsausflug, der mich aus dem abwechslungsreichen Freiburger Theateralltag in eine abwechslungsreiche Festivalwoche katapultiert hat. Dabei für eine Weile aus dem Modus des Theatermachens in den intensiven Modus des Theaterschauens und Sich-Drüber-Austauschens zu wechseln, hat gut getan, den Blick geschärft und geweitet. Irgendwie war das »Next Generation«-Forum ein echter Luxus – und das lag nicht, auch wenn dieser Eindruck entstehen könnte, an den sieben Nächten im Hotel der 400 Aquarien. Das nächste »Westwind« gibt es nächstes Frühjahr in Düsseldorf und mit dem »Next Generation«-Stipendium wird es wiederum einen fantastischen Rahmen zum Schauen, Reflektieren und Kontakten geben. Ich kann’s nur aller wärmstens weiterempfehlen.