EIN KOSMOS VON STIMMEN

von | 11.11.2013

Tina Müller schreibt ein Auftragswerk für das Theater Freiburg – »Falk macht kein Abi«. Nachdem in der vorletzten Spielzeit »8 Väter«, ihr Stück über Patchworkfamilien, im Werkraum zu sehen war, ist es Zeit, die preisgekrönte Autorin einmal vorzustellen. Ein Porträt von Ruth Feindel.

Tina Müller sitzt auf einer Bank, die zu großzügig und zu hell ist, um ein Schulmöbel sein zu können und sagt: »Ich habe Schreiben immer gehasst. Ich habe auch Lesen gehasst. Ich hatte schlechte Deutschnoten, ich war gut in Mathematik, Physik.« Das war zwei Jahre vor dem Abitur bzw. der Schweizer Matura, in Zürich, wo sie aufgewachsen ist. Heute lebt sie in Berlin und schreibt. Schreibt Theatertexte, die gerne als »Jugendstücke« etikettiert werden, weil sie Themen verhandeln, die im Lebensalltag von jungen Menschen eine essenzielle Rolle spielen. Und sie bekommt Preise dafür, wie z.B. für »8 Väter« (2011), das vorletzte Spielzeit in Freiburg im Werkraum zu sehen war. Und Zuschauer aller Generationen begeisterte.

Weil das, worum es ging, alle interessiert und angeht – die Familie als filigranes, störanfälliges soziales Gebilde, das öfter mal einer Neukonstellation unterzogen wird. Der »dramatic turn« hin zum Schreiben kam in Tinas Leben über ein anderes großes Thema, das meistens in der Adoleszenz beginnt und nie mehr aufhört, einen umzutreiben: die Tragödie. Tina Müller hat ihrem Deutschlehrer vorgeschlagen, eine Bearbeitung von »Romeo und Julia« machen zu dürfen. Und plötzlich eine ausgezeichnete Deutschnote bekommen. Der zweite Hinweis, dass sie schreiben kann, kam von ihrem Freund, mit dem sie sich während ihres Studiums Briefe geschrieben hat, zwischen Hildesheim und Zürich. Nach zweieinhalb Jahren Kulturwissenschaften in Hildesheim wechselte sie an die Universität der Künste (UdK) nach Berlin, um Szenisches Schreiben zu studieren. Dort kam das Handwerk in ihr Schreiben, die Narration, die Figuren, der perfekte Aufbau eines Stücks.

Parallel dazu hat sich Tina Müller eine davon unabhängige und eigenwillige Art des Recherchierens zugelegt, die wenig mit literarischen und viel mit sozialen Kontexten zu tun hat: die Begegnung und das Gespräch, vor allem mit jungen Menschen. Von denen sie sich angezogen fühlt, weil es bei ihnen das Fertige, Festgelegte noch nicht gibt, sie vielmehr damit beschäftigt sind, sich selbst zu suchen. Tinas Schreiben verdichtet sich oft in einem Kosmos unzähliger Stimmen, einem Kaleidoskop von Ansichten, Meinungen: »Ich habe nicht das Bedürfnis zu sagen, so empfinde ICH das, sondern bin eher fasziniert davon, was verschiedene Menschen zu einem Thema sagen. Deshalb hat mein Schreiben ein Stück weit mit Journalismus zu tun. Manchmal denke ich: »Ich bin näher am Berufsbild einer Journalistin dran als an dem einer Schriftstellerin.«
Dennoch entsteht inmitten dieser eingefangenen Vielstimmigkeit dieser unverkennbare Tina-Müller-Ton, der die Gedanken, Figuren, Handlungen zusammenführt und durchdringt: humorvoll, rhythmisch, fein ironisch und trotzdem zutiefst ernsthaft. Dieser Ton ist sehr mündlich und sehr szenisch, er braucht das Schnelle und Direkte des Theaters, braucht die körperliche Präsenz und Lebendigkeit.

Für ihr aktuelles Stück, das im Auftrag des Theater Freiburg entstanden ist, hat sie mit Freiburger Abiturienten und Abiturientinnen gesprochen, mit Lehrern, Schulleitern, besorgten Eltern, Psychologen und Abi-Abbrechern. Und mit Schülerinnen und Schülern, die eine Initiative gegründet haben, um auf externem Weg, ohne Eingliederung ins Schulsystem zur »allgemeinen Hochschulreife« zu gelangen. »Falk macht kein Abi« erzählt von drei Abiturienten, die in sämtliche Rollen schlüpfen, um ihrem Schulkameraden Falk auf die Spur zu kommen, einem Querkopf, der sich scheinbar nicht einordnen lässt, zumindest in kein Schulsystem. Über das Mysterium Falk kommen sie sich selbst näher und der Frage, ob man Schule überhaupt so gestalten kann, dass es wirklich um Bildung geht. »Wenn du es schaffst, die Bildung umzukrempeln, dann schaffst du es vielleicht auch, das System umzukrempeln«, das hat Tina Müller von den Jugendlichen als wesentlichen Gedanken mitgenommen.

PS: Am Tag nach der Premiere von »Falk macht kein Abi« ist ZEIT- Redakteur Henning Sußebach im Theater Freiburg zu Gast und liest aus seinem Buch »Liebe Sophie!« – einem offenen Brief eines Vaters, in dem er seiner Tochter erklärt, dass ihre Kindheit, zwischen Schulzeitverkürzung und Leistungsdruck, mehr als ein Trainingslager fürs Berufsleben sein sollte. Am Sa. 23.11.13 um 17 Uhr im Winterer-Foyer.

Falk macht kein Abi
Schauspiel von Tina Müller
Regie: Sylvia Sobottka / Ausstattung: Jens Dreske / Dramaturgie: Katharina Parpart / Mit: Charlotte Müller; Mathias Lodd, Daniel Wahl
Uraufführung: Fr. 22.11.13, 19 Uhr, Werkraum

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