ANGST IST KEIN ANTRIEB

von | 24.10.2013

Als die Autorin Kathrin Weßling von uns gefragt wurde, ob sie sich eine Uraufführung ihres Debütromans »Drüberleben« im Werkraum des Theater Freiburg vorstellen könne, schickte sie uns aus Hamburg eine Mail mit einem »Freudenschrei, der bis nach Freiburg zu hören sein müsste«. Dramaturgin Jutta Wangemann beschreibt, wie die Autorin das intime Thema Depression auf öffentlichen Plattformen verhandelt.

Kathrin Weßling, geboren 1985 in Ahaus an der holländischen Grenze, begann mit dem Schreiben für die Öffentlichkeit nicht im stillen Kämmerlein, sondern mitten auf einer Bühne: Sie entdeckte den Poetry Slam – und sehr schnell entdeckte das Publikum Kathrin Weßling. Knapp 5 Monate nach dem ersten Mal sah sie sich im ausverkauften Hamburger Schauspielhaus beim »Dead or Alive« 1400 Menschen gegenüber.
»Und so ging es weiter. Mal 500, mal 1000. Mal 100, mal 700. Mal mit Kamerateam, mal ohne. Ich war darauf nicht vorbereitet und auch nicht auf den Druck, der mit dem Gewinnen wächst. Niemand macht diesen Druck, aber er war da, zwei Minuten, bevor ich auf die Bühne musste. Und je öfter ich so einen Slam gewann, desto öfter wollte ich wieder gewinnen. Es gibt ganz bestimmt Menschen, denen das total egal ist – mir war es nicht egal. Und deshalb habe ich damit ganz schnell wieder aufgehört.«

Kathrin arbeitete als freie Texterin und Autorin für Magazine wie uMag und jetzt.de und startete 2010 ihren eigenen Blog mit einem sehr persönlichen Gegenstand: In »Drüberleben« erzählte sie aus ihrem Alltag mit der Krankheit, an der sie seit ihrem 16. Lebensjahr leidet: der Depression, »Therapieschlüssel F 32.2«. Auch in der Netzöffentlichkeit praktizierte Kathrin die Flucht nach vorn – nun allerdings als literarisches Mittel. Ihre Momentaufnahmen eines Lebens »zwischen Dispo, Psychiatrie und Disko«, ihre Beiträge mit Überschriften wie »Mein Name ist Kathrin Weßling und ich habe Angst vor Ämtern« sind unverstellte und präzise Innenansichten und selbstironisches Distanztraining. Kathrin Weßling wurde aus dem Stand zum »Bloggermädchen 2010« gewählt. Ihr Blog wurde bis zu seinem offiziellen Abschluss dieses Frühjahr laut Internetzähler 382696 mal aufgerufen und verzeichnet 1679 Follower. Das lässt vermuten, dass sich gerade netzaffine, jüngere Leser mit Themen wie Strukturlosigkeit und Angst identifizieren können.

Dass auch Literaturagenten auf Kathrins Schreiben aufmerksam wurden, führte dazu, dass die Wortschöpfung »Drüberleben« nun der Titel ihres im vergangenen Jahr erschienenen Romandebüts ist. Es handelt von einer jungen Frau, Ida, die sich wegen F 32.2 freiwillig in die Klinik einliefert und den Kampf aufnimmt gegen das Tiefdruckgebiet im Kopf. Der Text beginnt mit einem Bild für etwas, das sich nicht so einfach mit Worten beschreiben lässt: »Ich bin ein menschlicher Verkehrsunfall. Irgendwann bin ich einfach stehengeblieben, und dann sind die Erlebnisse wie LKWs in mich hineingefahren. Man kann sich vorstellen, dass das zu großen Problemen führt. Wenn man nicht ausweicht, geht das immer weiter. Der Unfall wird immer größer, immer unübersichtlicher …«

Im Wechsel innerer Monologe mit kammerspielhaften Therapiegesprächen reflektiert die Autorin – analytisch, komisch und rhythmisch – immer auch eine Außenwelt mit, die von der gnadenlosen Forderung zur Selbstoptimierung angetrieben wird. Auch wenn die Ängste, die mit der Depression verbunden sind, etwas über die Welt erzählen, in der wir leben, auch wenn Idas Geschichte mit den Erfahrungen ihrer Autorin arbeitet: Die klinische Depression ist »sinnblind«, das heißt: ohne Grund. Und ein Buch zu schreiben, ist keine Therapie.

Während am Theater Freiburg zwei Schauspielerinnen und ein Livemusiker für »Drüberleben« proben, schreibt Kathrin Weßling an einem neuen Buch – und auf ihrem neuen Blog »schreibenschreien« über ein weiteres höchst intimes Thema: das Schreiben. Erste Lektion: »Angst ist kein Antrieb. Sie gehört aber dazu.«

Drüberleben
Schauspiel nach dem Roman von Kathrin Weßling
Regie: Daniel Wahl / Ausstattung: Viva Schudt / Musik: Malte Preuß / Dramaturgie: Jutta Wangemann / Mit: Charlotte Müller, Nicole Reitzenstein / Live-Musik: Malte Preuß
Uraufführung: Fr. 25.10.13, 19.30 Uhr, Werkraum (bereits ausverkauft)
Im Anschluss an die zweite Vorstellung am So. 27.10.13 findet ein Gespräch mit der Autorin statt.

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